Seit Beginn des Jahres 2023 hat der „gelbe Schein“ durch die Übermittlung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weitestgehend ausgedient, dennoch erscheint die nach Ausspruch einer Kündigung vom Arbeitnehmer mitgeteilte und durch AU-Bescheinigung (vermeintlich) nachgewiesene Erkrankung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist gängige Praxis zu sein.
Vorausgehende Entscheidung
Bereits mit dem viel beachteten Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 8.9.2021 (Az. 5 AZR 149/21) hatte der fünfte Senat den Beweiswert der bis dahin faktisch als unantastbar geltenden ärztlichen AU-Bescheinigung in gewissen Konstellationen in Zweifel gezogen, was einer arbeitsrechtlichen Revolution glich.
Damals entschied das BAG: Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
Viel diskutiert – jedoch ganz überwiegend konträr bewertet – wurde im Nachgang der Entscheidung aus dem Jahr 2021 die Konstellation der arbeitgeberseitigen Kündigung mit anschließender Krankmeldung des Arbeitnehmers.
Nun der arbeitsrechtliche Paukenschlag des BAG zum Jahresende 2023
Mit Urteil vom 13.12.2023, bisher nur als Pressemitteilung veröffentlicht, entschied das BAG, dass der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der arbeitgeberseitigen Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt (Az. 5 AZR 137/23).
Der Fall:
Der seit März 2021 bei der Beklagten angestellte Kläger legte am Montag, dem 2.5.2022 eine AU-Bescheinigung für den Zeitraum vom 2.5. bis zum 6.5.2022 vor. Mit Schreiben vom 2.5.2022, das dem Kläger am 3.5.2022 zuging, kündigte die beklagte Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 31.5.2022. Mit Folgebescheinigungen vom 6.5.2022 und vom 20.5.2022 wurde dem Kläger Arbeitsunfähigkeit bis zum 20.5.2022 und bis zum 31.5.2022 (einem Dienstag) bescheinigt. Ab dem 1.6.2023 war der klagende Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber auf.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Für die Erschütterung des Beweiswertes einer AU-Bescheinigung kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber gekündigt hat und ob für den nach Kündigungszugang bis zur Beendigung bestehenden Zeitraum eine einzige oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Entscheidend ist, dass zwischen der festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz besteht und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Fazit
Mit der Ermöglichung der Erschütterung des Beweiswertes der AU-Bescheinigung auch im Falle der Kündigung durch den Arbeitgeber wird diesem ein Instrument an die Hand gegeben, auf vorgeschobene Arbeitsunfähigkeit aus Anlass einer Kündigung durch Verweigerung der Entgeltfortzahlung zu reagieren. Kommt es zur arbeitsgerichtlichen Auseinander um den Gehaltsanspruch für die Zeit der (vermeintlichen) Arbeitsunfähigkeit, hat der Arbeitgeber gute Chancen, den Anspruch abwehren zu können, wenn der Arbeitnehmer mit Ausnahme der ab Kündigung bis zum Ende der Kündigungsfrist passgenauen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung(en) keine für ihn günstigen Umstände vortragen und beweisen kann.
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