Nahezu sämtliche Beteiligte der Arbeitswelt kommen regelmäßig mit ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Berührung. Dabei ist jedoch nur den wenigsten Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern einerseits sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern andererseits bewusst, dass die vertragsärztliche Attestierung der Arbeitsunfähigkeit, die zumeist entgeltfortzahlungsrechtliche Auswirkungen hat, strengen Vorgaben folgt, welche in der sog. Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) normiert sind.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
Gerade diese Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nimmt das Landesarbeitsgericht Niedersachsen in einer aktuellen Entscheidung (Urteil vom 18.04.2024, Az. 6 Sa 416/23) in den Blick:
Im Kern beschäftigt sich das Urteil mit der Frage, ob ein ärztlicher Verstoß gegen die Vorgaben der AU-RL den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Prozess um einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu erschüttern vermag. Neben dieser arbeitsrechtlich hochinteressanten Entscheidung, mit welcher die viel beachtete jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum diesem Themenkomplex weiterentwickelt wird, ergeben sie aus ihr aber auch anders gerichtete Denkanstöße, die insbesondere für den jeweils behandelnden Arzt von Bedeutung sein können, und daher nachfolgend ebenfalls darstellt werden sollen.
Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Grundsätzlich steht dem Arbeitnehmer im Krankheitsfall ein Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) zu. Die Darlegungs- und Beweislast der Anspruchsvoraussetzungen obliegt dem Arbeitnehmer, wobei der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zukommt. Dieser kann vom Arbeitgeber nur erschüttert werden, indem er tatsächliche Umstände darlegt und beweist, dass er konkrete Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründet. Die Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Vortrag werden von der Rechtsprechung jedoch sehr hoch gehängt.
Auswirkungen des Urteils auf die Praxis
In seinem Urteil vom 18.04.2024 hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen nunmehr erstmals entschieden, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von mehr als zwei Wochen zur Erschütterung des Beweiswerts führen kann und damit klargestellt, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arbeitgeber zu erschüttern ist, wenn ein ärztlicher Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vorliegt.
Bedeutung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie für den Beweiswert
Viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht im Blick, da sie keine unmittelbare Geltung für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfaltet. Und doch dient sie – wie nunmehr vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen entschieden – den Gerichten bei der Frage der Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Orientierungshilfe.
Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie für Vertragsärzte
Die Richtlinie begründet einerseits Verpflichtungen für Vertragsärzte und regelt andererseits das Leistungsverhältnis zwischen gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern und ihren gesetzlichen Krankenversicherungen. In den §§ 4 und 5 bestimmt die Richtlinie insbesondere konkrete Vorgaben zum Verfahren zur Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit. So soll die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit beispielsweise nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden oder eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise erfolgen.
Konsequenzen einer erschütterten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für Arbeitnehmer
Gelingt es dem Arbeitgeber nun aufgrund eines Verstoßes gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung steht im als Beweismittel hierfür nicht mehr zur Verfügung.
Prüfung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch Arbeitgeber
Auch wenn Arbeitgeber häufig nicht in der Lage sind, die Rechtmäßigkeit von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vollumfänglich zu prüfen, kann es sich für Arbeitgeber dennoch künftig lohnen, die bei ihm oder der Krankenkasse eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sorgfältig auf offensichtliche Fehler oder Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie zu kontrollieren. Sollten sich dabei begründete Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers ergeben, könnte durchaus angedacht werden, die Entgeltfortzahlung einzustellen. Diese Vorgehensweise ist besonders deswegen ratsam, da die nachträgliche Rückforderung bereits gezahlten Entgelts vom Arbeitnehmer in der Praxis oft mit Schwierigkeiten verbunden und wenig erfolgversprechend ist.
Schadensersatzpflicht des Arztes bei fehlerhafter AU-Bescheinigung
Zugleich zeigt das Urteil des Landesarbeitsgericht auch eine bedeutende Relevanz für die praktizierenden Ärzte auf. Zwar ist mit Inkrafttreten des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) mit Wirkung zum 11.05.2019 § 106 Abs. 3a SGB V a.F. aufgehoben worden, nach welchem eine Schadenersatzpflicht des Arztes gegenüber dem Arbeitgeber und der Krankenkasse vorgesehen war, wenn dieser die Arbeitsunfähigkeit fahrlässig oder vorsätzlich attestierte, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen.
Gleichzeitig lässt sich aber nun eine Schadensersatzpflichtigkeit des ausstellenden Arztes gegenüber dem Arbeitnehmer für den Fall in Betracht ziehen, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund eines Verstoßes gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie erschüttert ist und der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigert. In solchen Konstellationen, in denen der Arbeitnehmer trotz objektiv bestehender Arbeitsunfähigkeit aufgrund des ärztlichen Fehlverhaltens nicht in der Lage ist, die Lohnfortzahlung durchzusetzen, erschiene aus Sicht des Arbeitnehmers eine Inanspruchnahme des ausstellenden Arztes auf Schadensersatz in Höhe der entgangenen Entgeltfortzahlung ratsam, um sich selbst schadlos zu halten.
Aus diesem Grund ist auch für alle Ärzte Vorsicht geboten. Zum einen sollten ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen den Formanforderungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie entsprechen, zum anderen sind auch sämtliche Verfahrensvorschriften betreffend die Krankheitsfeststellung einzuhalten, um etwaige nachteilige Konsequenzen zu vermeiden.